Die traditionelle indische Auffassung von Kunst lässt sich auf Bharatas Handbuch der Dramaturgie, das Natya Shastra (ca. 2. nachchristliches Jh.) zurückführen. Alle Künste, die im antiken indischen Theater zur Entfaltung kamen, hatten Gita – Musik und Lyrik – als verbindlichen gemeinsamen Nenner. Daraus beziehen bis heute Vertreter von Tanz, Schauspiel, Mime, Puppenspiel, Poesie, Malerei, Skulptur wie auch Architektur ihre Inspiration. So fanden sie auch Anschluss am weltweiten Zusammenspiel verschiedenster Stile und Medien.
Traditionell ist ästhetisches Empfinden – Rasa (“Geschmack”, “Essenz”, “Gemütsbewegung”) – das höchste Ziel künstlerischer Tätigkeit. Der bewusste Umgang damit erfordert das einfühlsame Verständnis psychologischer Phänomene (vergleichbar mit den Affekten der westlichen Tradition). Nicht nur dem Künstler, sondern auch dem Publikum erschließt sich der kreative Umgang mit dem Gehörten, Gesehenen und Erlebten, weil statt detaillierter “Werke” die kontextbezogene, oft improvisatorische Gestaltung vorgezogen wird.
Die “karnatische” Musik Südindiens gewährt noch heute lebendige Einblicke in das gesamtheitliche Kunsterleben der hellenistischen Welt. Diese Region unterhielt Handelsbeziehungen mit dem römischen Reich auf dem Höhepunkt seiner Ausdehnung.
Aller indischen Musik liegt die menschliche Stimme zugrunde. Sie dient zur Vermittlung von Melodie, Melismatik, Rhythmus und Ausdruck (Bhava). Es gibt somit keine Abgrenzung zwischen gesanglichem und instrumentalem Musizieren, obwohl natürlich jede Gattung ihre jeweiligen Spezialitäten besitzt.
Die Überwindung sprachlicher Barrieren wurde in einer Kultur, die Dutzende von Sprachen, Schriften und Hunderte von Dialekten kennt, früh als Vorteil instrumentalen Musizierens erkannt. Jedoch haben auch von Instrumentalisten gespielte Kompositionen spezifische Liedtexte, deren Inhalte bzw. Gefühlsgehalt es intuitiv zu vermitteln gilt.
In der südindischen Musik – Karnataka Sangitam (“orthodoxe” oder “klassische” Musik) – besteht für viele das Ziel ihres Musizierens darin, eine im Alltag verloren gewähnte Einheit oder Harmonie zwischen innerem und äußeren, individuellem und universellem, überliefertem und spontanem Erleben und Bewusstsein wieder herzustellen (Yoga). Die religiösen und philosophischen Ideale, die in Liedtexten zum Ausdruck kommen, sind jedoch recht unterschiedlich. Schon deshalb können sie keine Träger verbindlicher Glaubensinhalte sein, wie das mitunter in der europäischen Kultur der Fall war.
Mit der südindischen Musik lebt also eine alte Musiktradition kontinuierlich weiter. Ihre orthodoxen Vertreter berufen sich auf heilige Schriften wie die Veden und Upanishaden sowie auf anonyme Weise (Rishis). Andere lassen sich von mittelalterlichen Mystikern wie den Nayanmars, Alvars, Jayadeva, Tiruvalluvar, Kabir, Mira Bai, Purandara Dasa und späteren Komponisten wie Tyagaraja (1767-1847) inspirieren. Sie propagierten das Ideal von Musik als Schlüssel zur Selbstfindung oder Erlösung des Individuums von Konflikten oder Zwängen. Auch soziale Reformen wurden und werden bis heute thematisiert.
So sollte niemand von der aktiven Teilnahme am Musikleben ausgeschlossen werden. Dafür wurden zahllose didaktische Kompositionen (Alamkaram, Svarajati, Varnam) und einfache Lieder (Gitam, Padam, Kirtanam) geschaffen. Noch immer machen es sich viele Lehrer zur Aufgabe, Angehörigen aller Gesellschaftsschichten und Bevölkerungsgruppen Freude am aktiven Musizieren zu vermitteln und ein Leben lang zu erhalten.
Text: Ludwig Pesch